Samstag, 5. Mai 2012

Brecht - Der gute Mensch von Sezuan

Berthold Brecht – Der gute Mensch von Sezuan (1953)

→ INHALT
Das 1941 erschienene und 1943 erstmals aufgeführte Schauspiel »Der gute Mensch von Sezuan« ist eines der bekanntesten Werke Bertolt Brechts und ein klassisches Beispiel des »epischen Theaters«. Der Autor thematisiert darin den Konflikt von Moral und Überleben und den Versuch ethische Grundsätze allen Umstände zum Trotz aufrechterhalten zu wollen. Erzählt wird vom Schicksal der gutherzigen Shen Te in der chinesischen Provinz Sezuan, die auf Grund ihrer Lebenssituation gezwungen ist, in die Maskerade ihres skrupellosen Cousins Shui Ta’s zu schlüpfen. Das Stück besteht aus zehn Szenen sowie einem Vorspiel, einem Epilog und sieben Zwischenspielen.

Vorspiel
Der Wasserverkäufer Wang in der Hauptstadt der Provinz Sezuan. Er berichtet von großer Armut und Verzweiflung. Drei Götter treffen ein. Sie sind auf der Suche nach guten, gottesfürchtigen Menschen. Wang zieht los, ihnen eine Unterkunft zu suchen. Einzig die Prostituierte Shen Te heißt die Götter trotz großer finanzieller Nöte willkommen. Am Morgen erfahren die Götter von ihrer Armut und den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für sie, moralisch gut zu leben. Sie geben ihr daraufhin Geld.

1. Ein kleiner Tabakladen
Von dem Geld der Götter hat sich Shen Te einen Tabakladen gekauft. Eine Reihe von Hilfsbedürftigen trifft ein und erhält von ihr Obdach und Essen. Ein Schreiner erscheint und verlangt Geld für seine Stellagen. Die Hausbesitzerin erklärt, sie benötige eine Referenz. Unfähig, dies zu beschaffen, erfindet Shen Fe kurzerhand einen Vetter, Shui Ta, welcher beides besorgen könne.

Zwischenspiel unter einer Brücke
Im Traum erscheinen Wang die Götter und beauftragen ihn, zurück in die Hauptstadt zu kehren, um dort ein Auge auf Shen Te zu haben.

2. Der Tabakladen
Am Morgen erscheint Shen Te’s Vetter Shui Ta im Laden. Als der Schreiner wieder auftaucht, weigert sich Shui Ta, ihm mehr als einen kleinen Teil dessen zu zahlen, was der verlangt. Er befiehlt dann der von Shen Fe im Laden geduldeten Familie zu verschwinden.

3. Abend im Stadtpark
Shen Te lernt im Stadtpark Sun Yang kennen, einen arbeitslosen Flieger, der sich das Leben nehmen möchte. Der Wasserverkäufer Wang kommt vorbei und beklagt den Regen, der ihm das Geschäft erschwert. Shen Te kauft ihm einen Becher Wasser ab.

Zwischenspiel
Wang erscheinen erneut im Schlaf die Götter. Er berichtet ihnen von Shen Te und ihren vielen Wohltaten. Als die Götter jedoch von der Härte ihres Vettern Shui Ta erfahren, sind sie enttäuscht.

4. Vor Shen Te’s Tabakladen
Erst in den Morgenstunden kommt die verliebte Shen Te von Sun nach Hause. Dessen Mutter kommt zu ihr und berichtet, ihr Sohn könne eine Stelle als Flieger in Peking bekommen, hätte er nur 500 Silberdollar. Shen Te gibt ihr 200 Dollar, die ihr ein Nachbarehepaar geliehen hat.

Zwischenspiel vor dem Vorhang
Shen Te singt als Shui Ta »Das Lied von der Wehrlosigkeit der Götter und Guten«.

5. Der Tabakladen
Die als Shui Ta verkleidete Shen Fe bekommt Besuch von Sun. Dieser möchte, dass sie ihren Tabakladen verkauft, um dadurch an die fehlenden 300 Silberdollar zu kommen. Mit der Hausbesitzerin einigt man sich auf eben diese Summe. Danach erfährt Shui Ta jedoch, dass Sun ohne Shen Te nach Peking gehen möchte. Anschließend kommt der Barbier Shu Fu vorbei und erklärt, Shen Te einige seiner Häuser zu überlassen, sollte sie sich ihm versprechen. Als jedoch Sun erneut auftaucht und Shen Te auf ihn trifft, löst sie die Verlobung mit dem Barbier wieder.

Zwischenspiel vor dem Vorhang
Shen Te klagt über ihre Sorge, dem alten Ehepaar das geschuldete Geld nicht zurückzahlen zu können.

6. Ein billiges Restaurant
Auf der Hochzeitsfeier von Shen Te und Sun erklärt die Braut ihrem Bräutigam, sie könne ihm die 300 Silberdollar nicht geben, da sie dem alten Ehepaar zustünden. Sun wird wütend und besteht darauf, mit der Hochzeit auf Shui Ta zu warten, dieser würde ihm das Geld sicher zugestehen.

Zwischenspiel
Im Traum erzählt Wang den Göttern von seinen Sorgen um Shen Te, die sich in großer Not befinde. Er bittet die Götter ihr zu helfen, doch diese lehnen ab.

7. Hinter Shen Te’s Tabakladen
Die Hochzeit ist abgesagt. Shu Fu überreicht Shen Te dafür einen Blankoscheck. Sie findet heraus, dass sie schwanger ist. Ein weiteres Mal tritt dann Shui Ta auf. Er eröffnet dem Schreiner und seiner Familie, sie müssten von nun an für ihre Unterkunft in Shu Fu’s Obdachlosenheim Tabak verarbeiten. Mit dem Scheck bezahlt er die Miete für den Tabakladen.

Zwischenspiel
Erfolglos bittet Wang die Götter um ein milderes Urteil über Shen Te.

8. Shui Ta’s Tabakfabrik
Suns Mutter Frau Yang berichtet, dass ihr Sohn seit ein paar Monaten in Shui Ta’s Tabakfabrik angestellt sei, wo er schnell den Aufstieg zum Aufseher geschafft habe.

9. Shen Te’s Tabakladen
Shen Te ist nun schon seit einer Weile nicht mehr aufgetaucht. Sun hört, dass sie schwanger gewesen sein soll und ist schließlich überzeugt, Shui Ta halte sie gefangen. Dieser handelt indes mit der Hausbesitzerin und Shu Fu den Erwerb neuer Fabrikräume aus. Als Sun mit einem Polizisten zurückkommt und Shen Te’s Kleider entdeckt, muss Shui Ta mit aufs Polizeirevier.

Zwischenspiel
Wang berichtet den Göttern von Shen Te’s Verschwinden. Besorgt beschließen sie, ihr zur Hilfe zu eilen.

10. Gerichtslokal
Die drei Götter treten als Richter in Shui Ta’s Prozess auf. Dieser gibt schließlich seine wahre Identität preis. Die Götter weigern sich jedoch zu akzeptieren, dass ihr »guter Mensch von Sezuan« sie belogen hat. Shen Te preisend, entschwinden sie auf einer Wolke.

Epilog
Ein Schauspieler spricht zum Publikum und ruft dasselbige auf, selbst über eine Antwort auf die offen gelassenen Fragen nachzudenken.

»Gut zu sein und doch zu leben« ist der von Beginn an zum Scheitern verurteilte Anspruch Shen Te’s. Ihr selbstloser Antrieb anderen helfen zu wollen erweist sich als in der Realität nicht durchführbar, sie durchlebt ein Dilemma zwischen eigenen Bedürfnissen und ihrer Nächstenliebe. In »Der Gute Mensch von Sezuan« stellt Bertolt Brecht die Frage nach dem wahrhaft guten Menschen. Er thematisiert einen unvermeidlichen moralischen Konflikt in einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft und stellt gesellschaftliche Richtlinien auf den Prüfstand. Brecht ruf den Zuschauer letztlich auf, sich einzusetzen für eine neue Welt, in der es möglich ist, gut zu sein.
Kürzer:
In der chinesischen Provinz Sezuan besuchen drei Götter die Erde, um in einer von Egoismus geprägten Gesellschaft gute Menschen zu finden, was sich als unmöglich erweist. Sie wollen beweisen, dass auch gute Menschen auf der Erde leben können, um diese nicht verändern zu müssen.
Der Wasserverkäufer Wang versucht verzweifelt eine Unterkunft für die Götter zu finden, doch überall wird er zurückgewiesen, erst bei der Prostituierten Shen Te werden die drei Götter fündig. Sie nimmt persönliche Nachteile in Kauf, um anderen zu helfen, und bietet den drei Göttern ein Nachtquartier. Als sie am nächsten Morgen von ihren großen Geldsorgen berichtet, bezahlen die Götter für ihr Nachtquartier ein kleines Vermögen. Mit diesem ersteht Shen Te einen kleinen Tabakladen, um nicht mehr der Prostitution nachgehen zu müssen.
Als Gegenleistung für das kleine Vermögen verspricht Shen Te den Göttern, sich in Zukunft nur noch redlich und gut zu verhalten, was sich allerdings in der kapitalistischen Gesellschaft zunehmend als schwierig herausstellt, da ihr selbstloses Engagement für die Armen und Vernachlässigten sehr schnell sämtliche finanzielle Reserven aufbraucht und schließlich fast zum Verlust des Tabakladens führt.
Um dem Anspruch der Götter, „gut zu sein und doch zu leben“, gerecht zu werden, schlüpft sie in die Rolle ihres imaginären Vetters Shui Ta, um durch Rücksichtslosigkeit ihre Existenz zu retten und als Shen Te weiterhin helfen zu können. Als sie jedoch abermals um ihre Existenz betrogen und zugleich schwanger wird, setzt sie im Interesse des ungeborenen Kindes wieder die Maske des Shui Ta auf und baut mit ausbeuterischen Methoden eine florierende Tabakfabrik auf. Als Shen Te monatelang nicht mehr auftaucht, wird vermutet, Shui Ta habe sie umgebracht.
Shen Te wird in der Maske des Shui Ta vor Gericht gestellt, das von den drei Göttern gebildet wird. Shen Te erkennt die drei Götter wieder, gibt ihnen ihre wahre Identität preis und erzählt ihre Geschichte. Obwohl deutlich wird, dass der Anspruch der Götter, „gut zu sein und doch zu leben“, in dieser Welt nicht erfüllbar ist, ohne dass sich der Mensch in eine gute private und schlechte wirtschaftliche Persönlichkeit aufspaltet, ignorieren die Götter diese Erkenntnis. Das Ende bleibt offen, und der Zuschauer wird aufgefordert, eine eigene Lösung zu finden, die im marxistischen Sinne nur in der Veränderung der Gesellschaft liegen kann.






→ PERSONEN

Shen Te
Die Hauptfigur des Stückes Shen Te – es handelt sich um einen tatsächlichen chinesischen Namen, der übersetzt „göttliche Wirksamkeit“ bedeutet[1] – ist eine Prostituierte und später Besitzerin eines kleinen Tabakladens. Sie hilft, wo sie nur kann, doch sie ist selbstlos, naiv und sieht immer nur das Gute in den Menschen. Doch sie bemerkt rasch, dass ein guter Mensch in dieser Welt nicht überleben kann. Durch die äußeren Umstände wird sie förmlich gezwungen, ihre Persönlichkeit zu spalten, indem sie sich in brenzligen Situationen in den kaltherzigen Vetter Shui Ta verwandelt, um so ihre Existenz zu sichern. Sie bleibt aber trotz allem in den Augen der Götter und der Bewohner Sezuans „der Engel der Vorstädte“ sowie „der gute Mensch von Sezuan“.

Shui Ta
Shui Ta, der angebliche Vetter von Shen Te, jedoch in Wahrheit Shen Te in Verkleidung, verkörpert das vollkommene Gegenteil Shen Tes. Er ist der Gegenspieler oder Gegensatz Shen Tes. Er ist ein egoistischer, rücksichtsloser, skrupelloser, profitorientierter Mensch mit einem ausgeprägten Sinn dafür, sich aus allem eigene Vorteile zu schaffen (z. B. Aufbau der Tabakfabrik). Shui Ta repräsentiert den Teil Shen Tes, der als moderner Kapitalist drastisch seine persönlichen Ziele verfolgt. Außerdem wird deutlich, dass Shui Ta eine Person ist, die alles daran setzt, gute Beziehungen mit Höhergestellten aufzubauen (z. B. Anfreundung mit einem Polizisten).

Wang
Der Wasserverkäufer Wang führt in das Stück ein und funktioniert über seinen gesamten Verlauf als Verbindung zwischen den Göttern und der wirklichen Handlung, die er ihnen teilweise berichtet. Schon am Anfang des Stücks fällt er bei den Göttern durch, da sein Wasserbecher einen doppelten Boden besitzt und er damit seine Kunden betrügt. Doch dies ist seine einzige Falschheit. Außerdem fällt auf, dass er seine ganze Hoffnung in die Götter setzt, sich vor ihnen sogar fürchtet.

Die Götter
Von Anfang an werden die Götter als kaum ernstzunehmend beschrieben. Sie erfüllen nicht das althergebrachte Götterbild der Menschen und sind weder allwissend noch allmächtig. Brecht gestaltete die Götter als so menschlich, dass man sie als Widerspiegelung der modernen, naiven, wegschauenden und ignoranten Gesellschaft interpretieren kann. Dies wird besonders im letzten Bild deutlich, wo sie sich den Problemen entziehen, anstatt sich ihrer anzunehmen. Sie lassen Shen Te mit ihren Problemen allein und schweben auf einer rosa Wolke fort, wobei die Wolke ein Symbol für die Illusion ist, die sich die Götter von der Welt machen.

Yang Sun
Yang Sun will Flieger werden, dafür braucht er 500 Silberdollar, um einen Mitarbeiter bei der Fluggesellschaft zu bestechen. Er begegnet Shen Te und wird ihr Freund. Er betrügt sie um ihr Geld, gibt alles aus und entschließt sich dazu, in Shui Tas Tabakfabrik zu arbeiten, um einer Anklage wegen Betrugs zu entgehen. Nach einer Weile wird er zum Aufseher und schließlich zum Prokuristen befördert.


→ EPISCHES THEATER (Strukturelemente)

Anders als beispielsweise Leben des Galilei erfüllt Der gute Mensch von Sezuan sämtliche Kriterien der epischen Dramentheorie. Das Stück ist offen in Anfang und Ende, die einzelnen Bilder stehen für sich, sind aneinandergereiht und können einzeln betrachtet werden.
Die Handlung spielt sich auf zwei vollkommen konträr zueinander stehenden Handlungsebenen ab. Die transzendente Welt der Götter nimmt, weltfremd und fern allen Alltagsproblemen, die harte Realität der sozialen Elendsviertel, welche die andere Handlungsebene darstellt, nicht wahr. Die Götter besitzen andererseits in den Elendsvierteln von Sezuan keinerlei Bedeutung. Beide Handlungsebenen werden im Verlaufe des Stücks durch Montage – wie eingeschobene Traumsequenzen – verknüpft.
Erst im letzten Bild, als die Götter als falsche Richter fungieren, treffen beide Handlungsebenen wieder aufeinander, wobei sich die Götter von der realen Welt gedanklich so weit entfernt haben, dass sie nicht mehr fähig sind, Shen Tes Geschichte richtig zu interpretieren. Beide Handlungsebenen – die frühkapitalistischen, kulturell vor allem ostasiatisch geprägten Elendsviertel Sezuans und die realitätsferne Welt der Götter – schaffen eine große Distanz zum Zuschauer, der in völlig anderen Verhältnissen lebt und dem so das Bühnengeschehen fremd und unwirklich erscheint.
Der Verfremdungseffekt findet besonders zahlreiche Anwendungen, dabei wird die Handlung an vielen Stellen durch handlungsfremde Elemente unterbrochen, etwa durch Zwischenspiele, in denen Wang die Götter erscheinen, sowie Lieder, die das Geschehen teils sarkastisch kommentieren (z. B. das „Lied des Wasserverkäufers im Regen“ oder „Terzett der entschwindenen Götter auf der Wolke“). Des Weiteren gibt es zahlreiche Stellen, an denen handlungsdistanzierende Gestaltungsmittel verwendet werden, wobei z. B. Charaktere aus ihrer Rolle heraustreten und die Geschehnisse als Außenstehende kommentieren.
Sehr deutlich wird diese Form des Verfremdungseffekts im 8. Bild, in dem Frau Yangs Rückblende, die sie aus ihrer subjektiven Perspektive erzählt, durch szenische Darstellungen auf der Bühne verfremdet wird, die massiv von Frau Yangs Sichtweise abweichen. Der dadurch erzeugte Kontrast zwischen dargestellten und geschilderten Ereignissen erzeugt beim Zuschauer eine kritische Distanz, die zum Nachdenken anregt.
Nicht zuletzt sind die Aufspaltung Shen Tes in zwei völlig widersprüchliche Persönlichkeiten und die Lächerlichkeit der oft sehr menschlich und fehlbar wirkenden Götter, die dem Anspruch, göttlich zu sein, in keiner Weise gerecht werden, weitere Anwendungen des V-Effekts.
Auch auf sprachlicher Ebene findet der V-Effekt Verwendung im Stück. So stellt Frau Yang im 8. Bild die Wahrheit nicht nur völlig verzerrt dar, sondern steigert diese Verzerrung zudem ins Übertriebene, wenn sie von Shui Ta als „unendlich gütig“ spricht und betont, sie und ihr Sohn könnten ihm „wirklich nicht genug danken“.



→ „WAS IST GUT?“

Das Stück übermittelt klar und deutlich die Botschaft, dass es in dieser Welt unmöglich ist, gut zu sein, d.h. ethisch moralisch anständig zu handeln und, gleichzeitig, gut zu leben, d.h. materiell sein Auskommen oder gar einen bescheidenen Wohlstand zu finden. Beides ist nach Brecht nicht möglich. Das Stück endet mit dem Höhepunkt des Epilogs, in dem der Zuschauer mit den durch die Botschaft des Stückes aufgeworfenen Fragen konfrontiert wird. Shen Te wird allenthalben und etwas unkritisch als guter Mensch beurteilt. Das ist aber alles andere als klar und eindeutig. Bei genauer Betrachtung stellt sich sogar heraus, dass sie nur höchst einseitig und unvollständig - und dadurch dann eigentlich nicht - gut, sondern eine "Indikation" für die Psychotherapie "ist". Damit stellt sich natürlich die Frage: was soll gut heißen, was „ist“ gut? Ist es gut, naiv und spontan jedem mit Mitteln zu helfen, über die man letztlich gar nicht verfügt, deren Sicherheit fragwürdig ist? Ist es gut, von anständigen Leuten 200 Silberdollar als Darlehen zu nehmen, um sie einem nichtsnutzigen Egoisten, dem Geliebten, als Schmiergeldanteil für eine Stellung zu überlassen? Ist es gut, Schmiergeldzahlungen zu unterstützen? Ist es gut, einen egoistischen Ausbeuter zu lieben? Ist es gut, sich selbst und seine Ansprüche an Mitmenschen völlig aufzugeben, und ihnen in geradezu hündischer Weise willfährig zu sein, sich alles gefallen zu lassen, jede Unverschämtheit hinzunehmen, keinen Wunsch abzuschlagen, keine Bedürftigkeit zu überprüfen? Ist es gut, von einem Wirtschafts- und Schuldendesaster in das andere zu fallen?
Welche ethischen Maßstäbe setzt Brecht in dem Stück selbst? Wann ist ein Mensch „gut“? Am Anfang [Brecht GW, 4, 1492] meint DER DRITTE GOTT, dass Wang, der Wasserverkäufer, ein guter Mensch sei. Da belehrt ihn aber DER ZWEITE GOTT mit dem Hinweis, dass Wang mit doppeltem Boden ausschenkt, also betrügt (in der Erlanger Inszenierung verkauft er zeitgemäss saures Regenwasser). Man kommt überein, dass Wang als Betrüger anzusehen sei, der damit als guter Mensch entfalle. Tatsächlich ist das natürlich nur ein Aspekt. Dass dieser einzige Aspekt genügt, ihn als möglichen guten Menschen zu verwerfen zeigt, dass Brecht seine Götter einen harten Maßstab anlegen lässt. Eine Verfehlung genügt hier. Dabei ist Wang Shen Te gegenüber sicher gut und ein treuer, besorgter und für ihre Wiederkehr kämpfender Mensch. Wang ist zur treuen Freundschaft fähig, und das ist sicher ein guter Zug. Doch dieser Zug genügt den Göttern nicht. Andererseits muss man sagen fehlt auch Shen Te des öfteren, besonders drastisch dem älteren Teppichhändlerehepaar - die nach der Darstellung Brechts auch als gute Menschen in Frage kämen - gegenüber, deren 200 geliehene Silberdollar sie gleich an die Mutter des Fliegers, in den sie sich vernarrt hat, übergibt, ohne sich zu überlegen, wie sie das Geld den Alten wird zurückzahlen können.
 
Bei kritischer und tieferer Betrachtung stellt Brechts Parabel den Begriff des Guten selbst auf den Prüfstand indem er ein Relativitätsprinzip bezüglich der jeweiligen naturgesetzlichen, biologischen und soziologischen Rahmenbedingungen zum zentralen Thema macht.

Warum ist die Welt, sind die Menschen so schlecht ?
Wangs Interpretation:  Zu Beginn des Stückes wird von den Göttern auch die Frage aufgeworfen, weshalb es den Menschen hier so schlecht geht. Als Wang, der Wasserverkäufer, davon erzählt, dass in der Provinz Kwan große Armut herrsche, weil sie seit Jahrzehnten von Überschwemmungen heimgesucht werde und dies den Göttern als Folge fehlender Gottesfurcht verkaufen will, widerspricht DER ZWEITE GOTT: „Unsinn, weil sie den Staudamm verfallen ließen“ [Brecht GW 4, 1491]. Die Welt ist demnach nicht nur schlecht, weil die Menschen es an Charakterstärke und Ethik vermissen lassen, sondern es mangelt offenbar auch an der verantwortlichen Nutzung der Fähigkeiten. Das wird durch die derzeitige fehlende handwerklich-fachliche Qualität unserer PolitikerInnen mehr als bestätigt [was alles nötig wäre, Beispiel der Staatsverschuldung].

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