Goethe – Iphigenie auf Tauris (1787)
Das Schauspiel »Iphigenie auf Tauris« wurde am 13. Januar 1787 von Goethe während seiner Italienreise fertiggestellt und ist die letzte in einer Reihe von Fassungen. Es spielt einige Jahre nach dem Krieg um Troja auf Tauris (Insel Krim) im Hain vor dem Tempel der Diane, Göttin des Todes und der Jagd. Als Vorlage benutzte Goethe das Stück »Iphigenie bei den Taurern« des klassischen griechischen Dramatikers Euripides.
Die Griechin Iphigenie, Tochter des Agamemnon und der Klytamnästra, dient der Göttin Diane auf der Insel Tauris als Priesterin, nachdem diese sie vor dem Tod gerettet hat. Iphigenie empfindet Dankbarkeit und Pflichtgefühl gegenüber der Göttin und den Taurern, zugleich verzehrt sie sich vor Sehnsucht nach der Heimat und nach ihrer Familie.
Iphigenie, ihr Bruder Orest und ihre Schwester Elektra stammen aus dem Geschlecht des Tantalus, das mit einem Fluch der Götter belegt ist. Gemäß dem Tantalidenfluch kommt es in jeder Generation zu Gewalt und Morden innerhalb der Familie. Seit Orest, um den Tod des Vaters zu rächen, seine Mutter getötet hat, wird er von Furien aus der Unterwelt verfolgt. Die Verfolgung bringt ihn an den Rand des Wahnsinns.
Der Gott Apoll verspricht, ihn davon zu erlösen, wenn Orest die Schwester heim nach Griechenland bringt. Mit der Absicht, die Statue der Göttin Diane, Schwester des Apoll, zu rauben, erreichen Orest und sein Freund und Vetter Pylades das Ufer der Insel.
Hier werden sie von Soldaten des Königs Thoas gestellt. Da Iphigenie das Werben des Thoas nicht erhört, will dieser den Iphigenie zuliebe abgeschafften Kult des Menschenopfers wieder einführen. Danach werden alle Fremden, die die Insel betreten, der Göttin Diane geopfert. Für die Ausführung ist Iphigenie als Priesterin zuständig. Orest und Pylades werden deshalb zu ihr gebracht.
Iphigenie erfährt von Pylades und Orest vom Tod des Agamemnon durch den Geliebten der Klytamnästra sowie von deren Ermordung durch ihren Bruder Orest. Iphigenie ist bestürzt über die Vorkommnisse in ihrem Elternhaus, aber auch voller Mitgefühl für den von den Furien verfolgten Orest. Sie betet inbrünstig zu den Göttern um Heilung ihres Bruders. Ihr Gebet wird erhört. Die Furien weichen von Orest, und mit neu erwachtem Tatendrang bereitet er mit Pylades die heimliche Flucht von Tauris nach Griechenland vor. Iphigenie soll sie begleiten.
Die heimwehkranke Iphigenie befindet sich im Konflikt. Sie will die Flucht nicht vereiteln. Andererseits ist sie sich der Verantwortung für die Menschen auf Tauris bewusst und will diese nicht hintergehen. Zugleich wünscht sie sich den Segen der Götter für das Geschlecht des Tantalus. Sie spürt, dass ihm dieser nicht zuteil werden wird, wenn ihr eigenes Handeln auf Lug und Betrug aufbaut.
Sie gesteht König Thaos den Betrug und die geplante Flucht und bittet ihn um freies Geleit für sich, ihren Bruder und den Gefährten. Thoas verlangt zunächst Beweise für die Geschwisterschaft, und diese werden erbracht. Dann stellt Thoas auf den geplanten Betrug durch die Fremden ab und trachtet aus Rache weiterhin nach deren Leben.
Orest gibt seinen Irrtum zu. Er weiß jetzt, dass er nicht die Statue der Göttin, sondern die eigene Schwester heimbringen sollte. Mit ihrer Reinheit soll sie den Fluch für immer vom Geschlecht des Tantalus nehmen und dem Haus der Väter neuen Segen bringen. Auf Bitten und Drängen von Orest und Iphigenie gewährt Thoas ihnen schließlich nicht nur freies Geleit, sondern lässt sie als Freunde in ihre Heimat ziehen.
Goethe hat die Vorlage der griechischen Tragödie stark abgewandelt. In Iphigenie begegnet uns Goethes Idealbild des Menschen, bei dem der Geist den Naturmenschen besiegt, wie er es in seinem »Faust« beschreibt.
Euripides lässt Orest die Statue der Diane rauben, um den Furien zu entkommen, und das zerstörerische Element beherrscht den letzten Aufzug. Bei Goethe hingegen sind es Orests echte Reue sowie Iphigenies Reinheit und edle Gesinnung, die ihn vom Fluch erlösen. Goethes Ziel ist die Lösung des inneren Konflikts der Iphigenie, der Sieg des Guten und der Menschlichkeit über das Böse. Dies macht Goethes Dichtung zur Klassik schlechthin.
→ PERSONEN
Iphigenie
Trotz, Verlangen und Maßlosigkeit stehen sich Humanität und Sittlichkeit gegenüber.
Sie hat Heimweh, ist einsam
Sie will den Tantalidenfluch beenden
Sie hofft auf die Hilfe der Götter, sieht aber ein, dass sie selbst zum Handeln aufgerufen ist und sich nicht bedingungs- und tatenlos auf sie verlassen kann.
Sie beweist sich zum ersten mal als Humanist als sie ihren Bruder Orest heilt
Sie steht im Konflikt zwischen Pflicht und Neigung
Sie sieht Thoas eher als Vater, nicht als Ehemann
Sie lehnt Thoas' Antrag aus 4 Gründen ab: 1. Tantalidenfluch, 2. Sie will nicht mehr als Schutz und Ruhe von ihm fordern, 3. Sie ist der Göttin Diana verschrieben und darf nicht heiraten, 4. Sie muss zur Lösung des Fluches heimkehren
Iphigenie hofft zunächst auf die Hilfe der Götter, distanziert sich jedoch immer mehr von ihnen, da sie einsieht, dass sie selbst handeln und mehr Vertrauen in sich und die Menschen haben muss; sie verlässt sich schließlich auf ihr eigenes Tun
Sie verkörpert das Humanitätsideal
Sie ist aufmerksam, sensibel, mitfühlend, liebevoll, hört zu.
Ihre Ehrlichkeit ermöglicht ihr schließlich die Rückkehr nach Hause.
Letztlich verkörpert sie das Ideal der Klassik: Das richtige Verhalten erfordere kein besonderes Räsonieren. Allein die innere Verpflichtung zu Menschlichkeit und Wahrheit weisen in diesem Seelendrama den Weg.
Thoas
König von Tauris
- Wird durch Iphigenie positiv beeinflusst
- Nahm Iphigenie anfangs als Tochter auf
- Will Iphigenie heiraten, um einen neuen Thronfolger zu zeugen, nachdem sein erster Sohn verstorben ist
- Iphigenie enttäuscht ihn mit der Ablehnung seiner Anträge und ihrer Haltung, ihrer geplanten Flucht, ihrem starken Wunsch nach Heimkehr; empfindet sie als undankbar
- Trifft am Ende die freie Entscheidung mit Blick auf das Wohl aller, Iphigenie gehen zu lassen
- Wird durch Iphigenies Humanität selber zum Humanist
- Zeigt sich einsichtig
Orest
Iphigenies Bruder
- Brachte mit Hilfe seiner Schwester aus Rache seine Mutter um
- Belastet vom Fluch
- Reue, Schuldgefühle
- Depressiv, resigniert
- Passiv, schicksalsergeben, hoffnungslos
- Abhängig von den Göttern
- Abhängig von seinem Freund Pylades
- Er glaubt fest, dass die Götter alles vorherbestimmen und er sich nicht gegen sein Schicksal wehren kann. Menschen können ihr Schicksal nicht bestimmen.
- Wird von Iphigenie in 3 Schritten geheilt: 1. Gespräch, Analyse; 2. Gesteht Schuld ein, sagt die Wahrheit; 3. Heilschlaf
- Appelliert und glaubt zuletzt dank Iphigenie wieder an das Gute im Menschen
Pylades
Orest wurde wie ein Bruder bei ihm zu Hause großgezogen
- Opstimist
- Hinterlistig, belügt Iphigenie
- Legt die Worte der Götter zu seinem Vorteil aus
- Benutzt die Menschen, verhält sich nicht human; unmoralisch
- Voller Lebensmut, sehr willensstark
- Listig, taktierend, manipulierend
- Glaubt fest an die Wirkung seiner eigenen Taten
- Nutzt auch unfaire Mittel
Goethes Idee von der Humanität
Iphigenie verweigert die Opferung für die Göttin Diana. Sie versucht die Menschenopfer zu verhindern und ließe niemals einen Menschen durch ihren eigene Hand sterben.
- Thoas führt die Menschenopfer letzten Endes doch nicht wieder ein, obwohl Iphigenie ihn verlässt.
- Iphigenie zeigt tiefe Aufrichtigkeit und Ehrlichtkeit.
- Der Fluch wird nicht durch eine List aufgehoben, sondern durch Humanität, Wahrheit und Nächstenliebe.
- Mitgefühl
- Die Menschen sollen erkennen, dass sie eigenständig aktiv werden müssen und jeder sein Schicksal selber in die Hand nehmen kann. Man soll nicht blind auf die Götter vertrauen und an die Menschen glauben.
Merkmale des klassischen Dramas in Iphigenie auf Tauris
Iphigenie auf Tauris ist insofern ein klassisches Drama, weil es sowohl ein antikes Thema behandelt als auch das Menschenideal der Klassik widerspiegelt. So zeigt das Handeln der Protagonistin Iphigenie eine Harmonie zwischen Pflicht und Neigung, was in der Weimarer Klassik die Idealisierung eines Menschen bedeutet. Das Drama thematisiert zudem den inneren Kampf Iphigenies, bei dem zuletzt eben diese Harmonie zu einer Humanisierung der Menschheit führt.
Auch weist die Form des Dramas eindeutig klassische Elemente auf, wie zum Beispiel Einheit in Ort und Zeit oder eine einsträngige, klar nachvollziehbare Handlung. Somit besitzt Goethes Iphigenie auf Tauris die für die Klassik typische geschlossene Dramenform.
Neben der strengen Orientierung an der geschlossenen Form des antiken Dramas nach Aristoteles und der Vorbildlichkeit der griechisch-römischen Mythologie, sind folgende Merkmale typisch für das klassische Drama: Die Figuren verkörpern weniger Individuen als Ideen. Ziel ist die Darstellung überzeitlicher, allgemeinmenschlicher Gesetze. Es fehlen nämlich z.B. spontane Ausrufe, emotionale Ausbrüche, die individuelle Gefühle ausdrücken. Ferner löst der sittliche Mensch konkrete politisch-soziale Konflikte allein durch seine Humanität, die als erlösendes Prinzip dargestellt und Bestandteil einer ethisch-religiösen fundierten Ordnung ist.
Iphigenie auf Tauris ist ein typisches Beispiel für ein klassisches Drama, weil es das Humanitätsideal mehr als alle anderen Werke hervorhebt. Goethe sagt selbst, dass Iphigenie auf Tauris „teuflisch human“ und für ein Publikum wenig ansprechend sei. Daher ließ Goethe die Aufführung von 15. Mai 1802 seinen Zeitgenossen Friedrich Schiller aufführen.
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