Samstag, 5. Mai 2012

Hauptmann - Bahnwärter Thiel

Gerhard Hauptmann – Bahnwärter Thiel (1888)

Die Novelle »Bahnwärter Thiel« von Gerhard Hauptmann aus dem Jahr 1888 handelt von dem Bahnwärter Thiel, der den Tod seines geliebten Sohnes aus erster Ehe nicht überwinden kann und letztlich, geistig verwirrt, einen Mord begeht. Die Novelle spielt Ende des 19. Jahrhunderts sowohl in dem Ort Schön-Schornstein als auch an dem Arbeitsplatz Thiels, dem kleinen Wärterhäuschen an der Bahnstrecke zwischen Berlin und Frankfurt/Oder.

Der Bahnwärter Thiel ist ein sehr ruhiger und gewissenhafter Mann, der seit zehn Jahren immer zuverlässig seiner Arbeit nachgeht. Eines Tages erleidet er einen schlimmen Schicksalsschlag als seine geliebte Frau Minna, mit der er einen Sohn, Tobias, hat, stirbt.
Nach ungefähr einem Jahr heiratet er die dicke, herrschsüchtige Magd Lene. Die Ehe wird nicht aus Liebe, sondern aus Vernunftgründen geschlossen, denn Thiel will nicht, dass sein Sohn ohne Mutter aufwächst.
Lene wird schwanger und das zweite Kind kommt auf die Welt, weshalb Tobias von Thiels neuer Frau immer mehr vernachlässigt wird.
Mit der Zeit wird Thiel immer mehr von Lene, die zum neuen Oberhaupt der Familie wird, abhängig und kann sich ihr nicht widersetzen. Als er mitbekommt, dass Tobias regelrecht von Lene misshandelt wird, ist er aufgrund der sexuellen und psychischen Abhängigkeit zu Lene nicht im Stande etwas zu unternehmen. Innerlich jedoch wird er von Schuld gegenüber seiner verstorbenen Frau zerfressen, da er ihr versprochen hat, immer auf Tobias aufzupassen.
Thiel flüchtet sich, von seinem Gewissen geplagt, immer mehr in eine Art Phantasiewelt, in der er auch Visionen von seiner verstorbenen Frau wahrnimmt. In dem kleinen Wärterhäuschen an der Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Frankfurt/ Oder gibt er sich diesen Visionen von seiner Frau Minna hin. Sein Verhalten wird zunehmend krankhaft.
Eines Tages wird Thiel am Bahnwärterhäuschen etwas Land überlassen, welches sofort von Lene zum Kartoffelpflanzen übernommen wird. Obwohl Thiel nicht damit einverstanden ist, dass seine neue Frau in seinen Arbeitsbereich eindringt, kann er sich ihr nicht widersetzen. So kommt es, dass die gesamte Familie zu dem Wärterhäuschen aufbricht. Am Bahnwärterhäuschen angekommen unternimmt Thiel einen Spaziergang nur mit Tobias. Dieser ist von der Arbeit seines Vaters begeistert und wünscht sich später einmal Bahnwärter zu werden. Thiel ist stolz. Am Nachmittag muss Thiel zu seinem Dienst antreten und bittet Lene auf Tobias aufzupassen.
Ein Schnellzug kommt angebraust und fängt plötzlich an zu bremsen und Notsignale zu geben. Thiel rennt sofort zur Unglücksstelle und sieht Tobias liegen. Sein Sohn ist von dem Zug erfasst worden. Noch atmend, jedoch mit sehr schweren Verletzungen wird Tobias auf eine Trage und zur nächsten Krankenstation gebracht.
Thiel geht zurück an seine Arbeit, ist jedoch wie betäubt und flüchtet sich erneut in Visionen. In diesen verspricht er seiner Frau Minna Rache, denn er gibt Lene die Schuld an dem Unfall, da diese nicht auf Tobias aufgepasst zu haben scheint. Sein Hass gegen sie wird immer größer. Plötzlich fängt der Säugling an zu weinen und Thiel, rasend vor Wut, beginnt das Baby zu würgen.
Erst das Warnsignal des Zuges, welcher seinen Sohn zurückbringt, reißt ihn zurück in die Wirklichkeit. Vom letzen Wagen wird der Leichnam Tobias getragen, dahinter steigt Lene vom Wagen. Thiel bricht beim Anblick seines toten Sohnes bewusstlos zusammen und wird von Arbeitern nach Hause getragen. Den Leichnam will man später holen. Zu Hause kümmert sich Lene aufopferungsvoll um Thiel und schläft anschließend völlig erschöpft ein. Nach einigen Stunden wird der Leichnam Tobias von den Arbeitern nach Hause getragen, dabei entdecken sie Lene erschlagen und das Baby mit durchschnittener Kehle.
Thiel wird später auf den Gleisen sitzend und Tobias Mütze streichelnd an der Stelle gefunden, an der seinen Sohn der Zug erfasst hat. Er wird in die Irrenanstalt des Charite eingeliefert.

Die Novelle »Bahnwärter Thiel« zeigt die psychische Abhängigkeit eines Menschen zu einem anderen und die damit verbundene Unfähigkeit sein eigenes Leben zu leben. Thiel ist sowohl von seiner verstorbenen Frau Minna abhängig, so dass er sich immer wieder in eine Art Phantasiewelt flüchtet, als auch von seiner zweiten Frau Lene, der er sich nicht widersetzen kann. Getrieben von Schuld gegenüber seiner verstorbenen Frau und ausgelöst durch den Tod seines Sohnes, wird aus dem frommen, ruhigen Mann ein Frauen- und Kindermörder.

→ PERSONEN

Bahnwärter Thiel
Äußeres: Robustes Erscheinungsbild („herkulische Gestalt“), das im Kontrast zu seinem sensiblen Inneren steht → vergeistigte Liebe zu seiner ersten Frau Minna, von deren Tod er tief getroffen ist.
Verhältnis zu Tobias: Thiel ist seinem Sohn Tobias in großer Liebe verbunden, kann ihn aber nicht vor den gewalttätigen Übergriffen Lenes schützen. Thiel fühlt sich durch Tobias an Minna erinnert.
Verhältnis zu Lene: Thiel heiratet nach dem Tod von Minna erneut, doch die Beziehung zu seiner zweiten Frau Lene, mit der er hauptsächlich aus finanziellen Gründen und da er jemanden braucht, der sich um Tobias kümmert, eine Zweckgemeinschaft eingeht, beschränkt sich weitgehend auf die sexuelle Ebene.
Verhältnis zur verstorbenen Minna: Parallel zu der realen, alltäglichen Beziehung mit Lene gedenkt Thiel der verstorbenen Minna mit kultähnlichen Handlungsweisen in seinem Wärterhäuschen am Bahndamm, das ihm „zur Kapelle“ wird: „Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd […] und geriet dabei in eine Ekstase, die sich zu Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.“[1]
Abhängigkeit: Thiel ist psychisch abhängig vom Traumbild der verstorbenen Minna und physisch abhängig von Lene (sexuelle Abhängigkeit, Angewiesenheit auf ihre Arbeit im Haushalt).
Passivität: Thiels psychische Entwicklung sowie der Mord an Lene und deren Kind sind von Anfang an „vorbestimmt“, da Thiel durch seine Passivität sein Schicksal selbst nicht verändern kann.
Wahnsinn: Im Lauf der Handlung ist Thiel zunehmend entrückt, seine Visionen nehmen zu, eine Neigung zum Wahnsinn (Progression einer psychischen Krankheit) lässt sich erkennen. Seinen Wahnvorstellungen ist Thiel oft „bewusstlos“ ausgeliefert, es gelingt ihm am Ende nicht mehr, ihrer Herr zu werden: „Er suchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen, vergebens! Es war ein haltloses Streifen und Schweifen. Er ertappte sich auf den unsinnigsten Vorstellungen und schauderte zusammen im Bewusstsein seiner Machtlosigkeit.“[2]
Soziale Determiniertheit: Thiel, stellvertretend für die Menschen seiner Zeit und sozialen Schicht ist das Produkt von Milieu und Vererbung.
Antiheld: Thiel ist ein klassischer Antiheld, ist kein souverän Handelnder, sondern wird von äußeren Umständen (Tod Minnas, gesellschaftlicher Zwang zur erneuten Heirat, Notwendigkeit der Verbindung zu Lene, um Tobias versorgen zu können) beeinflusst und gelenkt → Bezug zur Sozialen Frage im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Thiel ist Gefangener seiner begrenzten Ordnung und abhängig von seinem Beruf.

Minna
Thiels erste Frau, nach zwei Jahren Ehe bei der Geburt von Tobias verstorben
Namensgebung vermutlich in Verbindung mit mhd. Minne (Liebe)
Äußeres: feingliedrig, kränklich, blass (im Gegensatz zu Thiels stämmiger Statur)
Obwohl körperlich nicht mehr anwesend, bestimmt Minna immer noch Thiels Gedanken und Träume und steht ihm näher als Lene
Wird von Thiel nach ihrem Tod stark idealisiert
Thiel pflegt zur verstorbenen Minna eine geistige und beinahe religiöse Liebe, im Gegensatz zur körperlichen Leidenschaft, die ihn mit Lene verbindet.

Lene
Thiels zweite Frau (sollte für Tobias eine Ersatzmutter sein), frühere Kuhmagd.
Physisches Gegenteil der zarten, zierlichen Minna: grobe, füllige Erscheinung. Passt in Bezug auf die Statur eher zu Thiel (kräftig, robust).
„Unverwüstliche Arbeiterin“ bzw. „musterhafte Wirtschafterin“ (Vertreterin der unteren Schicht des Proletariats).
Darstellung als herrschsüchtig, primitiv, klatschsüchtig, zänkisch, tyrannisch, und später auch (körperlich) brutal. In sprachlichen Bildern wird sie mit einer Maschine oder der Eisenbahn verglichen (siehe unten)
Kann Tobias von Anfang an nicht leiden. Diese Abneigung verstärkt sich noch, als Lene selbst einen kleinen Sohn von Thiel bekommt, den sie in allem Tobias vorzieht, während sie letzteren verbal und körperlich misshandelt.
Dominiert in der Beziehung zu Thiel und behauptet auch die dominante Stellung in der Familie. Thiel wagt nicht, Lene von den Misshandlungen Tobias' abzuhalten.
Andere Einwohner des kleinen Dorfmilieus nennen sie „das Mensch“ (abwertend für „Frau“) oder „das Tier“.
Wegen Vernachlässigung (sie beaufsichtigt ihn nicht ausreichend) anscheinend Schuld an Tobias' Tod.

Tobias
Erstes Kind Thiels aus der Ehe mit Minna
Sucht Nähe und Liebe des Vaters, erweckt dabei Hass/Eifersucht der Stiefmutter. Folge: Misshandlung durch Lene.
Er bewundert seinen Vater, will einmal Bahnmeister werden.
Verbindungsglied zwischen Thiel und Minna
Äußeres: kränklich, schwach, rothaarig (wie sein Vater), blass (wie seine Mutter)
Wird auf Grund von beabsichtigter oder fahrlässiger Unaufmerksamkeit Lenes vom Zug überfahren und stirbt an den Folgen


→ SYMBOLIK

Zentrales Dingsymbol in „Bahnwärter Thiel“ ist die Eisenbahn. Im 19. Jh. war sie ein weithin sichtbares Zeichen des anbrechenden Maschinenzeitalters, das mitunter als bedrohlich empfunden wurde, auch hinsichtlich der sozialen Probleme, die die Industrialisierung v.a. im Milieu der Arbeiterschaft erzeugte. Physische und soziale Bedrohung durch die „Macht der Maschinen“, denen die Menschen in ihrem Lebensrhythmus unterworfen sind, kommen in der Eisenbahn-Symbolik der Novelle deutlich zum Ausdruck:
Die zerstörerische Kraft der Eisenbahn erlebt Thiel mehrfach: Die stille Andacht an Minna wird durch „vorbeitobende Bahnzüge unterbrochen“[3], er selbst wird durch eine aus einem Zug geworfene Flasche verletzt, ein Rehbock wird gerammt und schließlich führt der Zugunfall am Ende nicht nur zum Tod von Tobias, sondern kostet in der Folge auch Lene und Thiels zweitem Sohn das Leben.
Wie ein Zug, der seine Gleise nicht verlassen kann, so ist auch Thiels Leben durch seine psycho-soziale Determiniertheit „auf Schienen“ gestellt. Da er seine Abhängigkeit von Lene und seinen sozialen Stand nicht durchbrechen kann, es auch nicht versucht, ist er fremdbestimmt und sein Leben wird auf fester Bahn gesteuert. Wie ein Zug „rast“ auch die Handlung dem Abgrund zu, da Thiel angesichts der bedenklichen Entwicklungen (Misshandlung des Sohnes, zunehmende Abhängigkeit von Lene, gesteigerte Flucht in die Traumwelt) nur passiv reagiert.
Die in der Novelle dargestellten Züge werden nicht als vom Menschen geschaffene und von ihm kontrollierte Kraft, sondern als Fortsetzung der dämonischen Macht der Natur dargestellt: „Zwei rote, runde Lichter durchdrangen die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel. Thiel fühlte ein Grauen und, je näher der Zug kam, eine umso größere Angst.“[4]
Unterstützt wird die Eisenbahnsymbolik durch thematisch an ihr angelehnte sprachliche Bilder: „Thiel konnte sich erheben und seinen Dienst tun. Zwar waren seine Füße bleischwer, zwar kreiste um ihn die Strecke wie die Speiche eines ungeheuren Rades, dessen Achse sein Kopf war; aber er gewann doch wenigstens Kraft, sich für einige Zeit aufrecht zu halten.“[5]
Schließlich wird die Eisenbahnsymbolik auch auf Lene übertragen: Lene, von der für Thiel eine „unbezwingbare, unentrinnbare“ Macht ausgeht, die um ihn ein „Netz von Eisen“ legt,[6] arbeitet auch mit der „Ausdauer einer Maschine. In bestimmten Zwischenräumen richtete sie sich auf und holte in tiefen Zügen Luft […] mit keuchender, schweißtropfender Brust. “ [7] Wie die regelmäßigen Züge, die „milchweiße Dampfstrahlen“[8] hervorschießen, dringt nun auch Lene in Thiels stillen Andachtsort am Bahnwärterhäuschen ein und am Ende bringen der Zug und Lenes Unachtsamkeit Tobias den Tod.

Dass Thiel auf dem Weg zu seiner Arbeit täglich die Spree überqueren muss, steht für die Abgeschiedenheit in der die Familie Thiel lebt.
Hauptmann zeigt an der Figur Thiel seine Sicht des determinierten Menschen, getrieben von den Mächten der Psyche und der Sinnlichkeit.



→ EPOCHE

Einordnung in den Naturalismus
Naturalistische Merkmale im Bahnwärter Thiel
Antiheld als Hauptfigur
Arbeiteralltag (Soziale Frage im 19. Jh.)
Milieuzugehörigkeit der Hauptpersonen, in der sie gefangen sind und die ihr Leben bestimmt.
Ziel der Novelle: Arbeiterelend soll in bürgerlichen Kreisen angeprangert werden
sehr genaue und detaillierte Beschreibung des Geschehens
genaue Orts- und Zeitangaben (z. B. Schön-Schornstein, Neu Zittau)
chronologisches Erzählen
Sekundenstil: Beispiel aus Bahnwärter Thiel im dortigen Artikel.
Menschenbild: Mensch als Produkt von Milieu und Vererbung
Dominanz der Triebhaftigkeit
Darstellung des Alltäglichen, Niedrigen, Hässlichen (bewusste Betonung des Elends)

Antinaturalistische Merkmale im Bahnwärter Thiel
starke Farbmetaphorik (vor allem rot, schwarz)
viele Naturbilder, Metaphern, Vergleiche, Symbole (u. a. romantische Elemente)
kaum Umgangssprache, kein Dialekt, wenig wörtliche Rede
Sympathielenkung
Ausgestaltung von Thiels Charakter - psychische Tiefen
zu Beginn der Novelle Raffung von 10 Jahren
Vorgriffe (z.B. Traum)
Traum = mystische Züge, Verschmelzen von Realität mit Wahn

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